Simone Oldenburg: Regierungserklärung der Ministerpräsidentin des Landes Mecklenburg-Vorpommern zum Thema – Aktuelle Lage „Corona-Virus“

Frau Präsidentin,

sehr geehrte Damen und Herren,

es ist geschafft.

Die Krise ist vorbei. Wir sind über den Berg.

Sind wir das wirklich?

Fakt ist, dass die Inzidenzwerte so niedrig wie noch nie sind und es auf den Intensivstationen deutlich entspannter ist.

Fakt ist auch, dass wir das gesellschaftliche Leben in vielen Bereichen wieder möglich gemacht haben – von privaten Feiern bis zur kleinen Kulturveranstaltung – Das Leben hat uns wieder.

Fakt ist auch, dass die Kinder wieder in die Kita und in die Schule gehen und der Handel, die Restaurants, die Sportvereine sind wieder am Start. Und besonders wichtig ist, dass man sich wieder mit Freunden treffen kann - also so richtig, in Echt, auf der Terrasse und im Garten statt Zoom, Teams oder WhatsApp.

Nach dem, was wieder möglich ist, scheint es tatsächlich so, als hätten wir es geschafft.

Das, sehr geehrte Damen und Herren, ist ein Verdienst aller, die sich an die Regeln gehalten haben, die aufeinander Acht gegeben haben, die ihr Leben – wirklich schmerzhaft eingeschränkt haben, um sich und andere zu schützen.

Danke all jenen Frauen und Männern, die diese großen Entbehrungen auf sich genommen haben, damit wir diese große gesellschaftliche Krise überstehen konnten.

Aber diese unfassbare Zeit hat auch Menschenleben gekostet: Viele Menschen trauern um ihre Angehörigen - ihre Eltern, Frauen, Männer, aber auch um ihre Kinder.

Ihnen gilt ganz besonders unser Mitgefühl und unsere Anteilnahme.

Sehr geehrte Damen und Herren,

Zur Rückschau gehört aber auch, dass wir nicht unerwähnt lassen können, dass wir diesen Ausnahmezustand auch ertragen mussten, weil es der Politik – weder im Bund noch im Land – gelungen ist, rechtzeitig Vorsorge zu treffen.

Es gab von allem, was wir in dieser Zeit gebraucht hätten, zu wenig oder gar nichts.

So hätten wir schneller über den Berg sein können, wenn wir denn genug Impfstoff gehabt hätten.

Weil die Bundesregierung dieses Krisenmanagement beim Impfstoff nicht beherrschte und sich bis heute damit schwertut, auch deshalb mussten wir ein zweites und ein drittes Mal rigorose Einschränkungen hinnehmen.

Aber moralisch noch viel verwerflicher ist, dass sich Politiker auf Kosten der Pandemie bereichert haben, dass sie uns alle über den Tisch gezogen haben. Statt Hilfsprogramm für alle Menschen zu stricken, haben sie ihr eigenes Hilfsprogramm aufgelegt.

Und dann sind sie noch nicht einmal alleine gegangen, da musste man sie noch zu zwingen.

Ich kann verstehen, dass hier die Politik einen großen Vertrauensverlust erlitten hat.

Und immer noch erleidet, denn einer ist immer noch da – dabei hätte er schon mehrmals zurücktreten müssen.

Gesundheitsminister Spahn verschwendet nicht nur eine Milliarde Euro für Schrottmasken, nein, er als Gesundheitsminister will diesen Schund an Menschen mit Behinderungen verteilen.

Was ist das für ein unmenschlicher Umgang.

Was ist das für eine menschenverachtende Haltung.

Ich glaube, Herr Spahn weiß, was zu tun ist.

Sehr geehrte Damen und Herren,

am schwersten hat diese Pandemie die Kinder und Jugendlichen getroffen.

Sie, die am meisten Aufmerksamkeit benötigen – haben oft alleine zu Hause gesessen und wurden im Vorübergehen beachtet. Sie mussten sich selber unterrichten, sich selbst motivieren, sich selbst beschäftigen - kurz um: sie waren allein.

Liebe Kinder, liebe Jugendlichen,

an euch geht unser allergrößter Dank.

Ihr habt Unglaubliches geleistet.

Ihr hattet am meisten in den letzten Monaten zu leiden.

Und sicherlich, hätte man euch auch einiges ersparen können, wenn der Sommer besser für die Vorbereitung auf den Herbst genutzt worden wäre.

Wenn niemand – nicht nur in Mecklenburg-Vorpommern, sondern in der gesamten Bundesrepublik - hinter warmen Temperaturen und einer sommerlichen Leichtigkeit in Deckung gegangen wäre.

Ja, ich denke, dass viele geglaubt haben, der Kelch geht beim nächsten Mal an uns vorüber.

Durch dieses Hoffen und Bangen ist viel wertvolle Zeit ungenutzt geblieben. So gab es dann nicht mehr viele andere Möglichkeiten des Reagierens, als euer Leben nochmals drastisch einzuschränken.

Ihr habt am meisten gelitten:

  • ihr durftet nicht in den Kindergarten,
  • ihr konntet nicht eure Freunde treffen – sie schon gar nicht umarmen,
  • in den ersten Monaten durftet ihr nicht auf den Spielplatz,
  • ihr durftet nur zu Oma, aber nicht zu Opa.

Ihr seid die wirklich Großen.

Denn eines steht fest:

  • Das war zu viel für euch.
  • Das war zu viel für Kinderseelen.

Und deshalb darf es auch nicht bei einem Dank bleiben, sondern ihr braucht von uns, von den vermeintlich Großen, Hilfe und Unterstützung, um die kleinen und großen Dellen, die Beulen und Wunden, die ihr davongetragen habt, zu heilen.

Ihr müsst endlich im Mittelpunkt stehen. Ihr habt Aufmerksamkeit verdient.

Es gab Wirtschaftsgipfel, Tourismusgipfel, Sportgipfel, Impfgipfel, aber bei den ganzen Gipfeln war kein einziger Kindergipfel.

Den forderten wir bereits im November von der Landesregierung. Da nichts geschah, traf sich unsere Fraktion in der letzten Woche mit vielen Beteiligten:

  • mit dem Landeselternrat,
  • dem Kinderschutzbund,
  • den Gewerkschaften,
  • dem Landesschülerrat und viele andere.

Wir haben die Betroffenen gefragt.

Wir haben sie mit einbezogen.

Tun Sie es auch, sehr geehrte Damen und Herren der Koalition.

Denn ein „Zwei-Milliarden-Aufholpaket“ des Bundes bei 13,5 Millionen unter 18-Jährigen ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Deshalb schlagen wir mit unserem Antrag vor, dass wir mit Beginn der Sommerferien eine „Kinderkarte“ für alle Kinder bis zum 16. Lebensjahr einführen, um ihnen mit 50 Euro monatlich den Eintritt in den Zoo, ins Kino, ins Schwimmbad zu ermöglichen.

Sie sollen diesen Sommer genießen können.

Sicherlich kann man auch wieder alle einen Tag in den Zoo schicken, aber ich denke, dass es besser ist, die Kinder und Jugendlichen allein entscheiden zu lassen. Wir sollten uns davor hüten, ihnen zu sagen, was sie wollen sollen. Sie haben einen eigenen Kopf und können selbst entscheiden.

Und damit sie auch all die schönen Freizeiteinrichtungen erreichen können oder zu ihren Freunden kommen, schlagen wir vor, ihnen das Schülerferien-Ticket zu schenken.

Sie sollen keine 31 Euro bezahlen müssen, denn alle Kinder und Jugendlichen brauchen es, nicht nur die, die es sich leisten können. Nur so können sie im Übrigen auch die Angebote des „Zwei-Milliarden-Lückenschlussprogramms“ oder der Ferienlernkurse wahrnehmen.

Auch wissen wir, dass sich auch auf Grund von Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit sowie durch den Wegfall von Ferienjobs die Lage in unserem Land noch verschlimmert hat und verschlimmern wird – so dass wir für die Familien eine ganz besondere Verantwortung haben.

Werden wir dieser gerecht.

Sehr geehrte Damen und Herren,

aber nicht nur den Kindern, sondern auch allen anderen hat die Politik verdammt viel zugemutet.

So ist zum Beispiel die Ausbildung vieler Jugendlicher durch Corona ins Stocken geraten.

Besonders schwierig ist das bei den Studierenden.

Die Universitäten waren die meiste Zeit für Präsenzveranstaltungen geschlossen. Die Studentinnen und Studenten waren also oft auf sich allein gestellt, mussten aus der Ferne studieren, ohne Anleitung der Tutoren und Professoren, ohne Übungen und Praktika. Nebenjobs, auf die viele von ihnen angewiesen sind, sind weggebrochen.

Richtigerweise wurden inzwischen die Regelstudienzeiten verlängert und damit auch der BaföG-Bezug.

Aber was ist mit all jenen, mit den tausenden Studierenden, die gar kein BaföG beziehen?

Sie sind oft auf das Kindergeld angewiesen, um ihr Studium überhaupt noch fortzusetzen.

Dieses fällt jetzt aber trotz der längeren Regelstudienzeit mit dem 25. Lebensjahr weg. Das ist nicht richtig. Das Kindergeld muss bis zum 27. Lebensjahr gezahlt werden, damit wir Studienabbrüche vermeiden.

Sehr geehrte Damen und Herren,

aber auch die Unternehmer, die Künstlerin und die Künstler, der Koch, der Paketzusteller oder die Erzieherin – sie alle haben die schwerste Zeit in ihrem Arbeitsleben durchgemacht.

Und genau diese Menschen sind eben noch nicht über den Berg. Sie haben es noch nicht geschafft. Denn wir wissen nicht, welche Firmen tatsächlich überleben werden oder welche bisher nur durch gesetzliche Regelungen und zeitlich befristete Hilfen geschützt wurden.

Um sie zu retten, müssen wir dringend folgende Maßnahmen ergreifen:

  • Die Bezugsdauer des Arbeitslosengelds verlängern,
  • das Kurzarbeitergeld anheben,
  • die Insolvenz-Antragspflicht rückwirkend zum 1. Mai wieder aussetzen,
  • bei der Kurzarbeitergeld-Regelung müssen die Sozialversicherungs-Beiträge an die Arbeitgeber bis zum Jahresende vollständig erstattet werden.

Aber auch die Künstlerinnen und Künstler, die Sänger und Schauspieler haben es noch längst nicht geschafft – sind noch nicht mit der Krise fertig, sie hat die Pandemie mit ihren Auswirkungen noch voll im Griff.

So sind die geltenden Corona-Schutzbestimmungen für sie weiterhin einschränkend, belastend und frustrierend.

Bis unsere Künstlerinnen und Künstler wieder laut werden können, bis sie wieder Tritt gefasst haben, vergehen noch Wochen und Monate.

Deshalb muss für sie aus dem „Winterstabilisierungsprogramm“ ein „Sommerstabilisierungsprogramm“ werden. Dieses Programm kann dann zum Beispiel Live-Veranstaltungen unterstützen, die unter den Corona-Bedingungen durchgeführt werden. Denn jeder frei zu lassende Platz ist nicht nur ein Platz für fehlende Kultur, sondern auch für fehlende Einnahmen.

Ohne Unterstützung ist ein wirtschaftlicher Betrieb bei geringeren Einnahmen und höheren Ausgaben – nicht möglich. Hier muss das Land Regie führen und zwar mit einer kulturvollen Unterstützung. Mecklenburg-Vorpommern muss ein „Kulturretter“ sein.

Sehr geehrte Damen und Herren,

auf vielen Gebieten hat sich Corona so perfide, still und heimlich eingeschlichen, die Auswirkungen waren und sind nicht sofort spürbar und sichtbar.

Aber wo sie sofort offensichtlich, wahrnehmbar und gefährlich zum Ausbruch kamen, war unser Gesundheitswesen:

  • keine Reserven,
  • zu wenige Beatmungsbetten,
  • zu wenige Krankenschwestern,
  • zu wenige Pflegekräfte, besonders im Intensivpflegebereich,
  • zu wenige Testmöglichkeiten,
  • zu wenig Schutzausrüstung,
  • zu wenige Ärzte,
  • zu wenige Masken.

So ein wohlhabendes und weitentwickeltes Land muss das besser können.

In so einem Land darf das alles nicht passieren, hätte es verhindert werden müssen.

Hier sieht man, dass der Markt eben nicht alles regelt. Er regelt nämliche nicht das Gemeinwohl, sondern lediglich die Profite.

Dieses Systemversagen darf sich niemals wiederholen. Denn auf eine Krise folgt die nächste – und bis dahin müssen wir gelernt haben, müssen wir Schlussfolgerungen gezogen haben.

Bis dahin müssen wir – im wahrsten Sinne des Wortes - auf der „sicheren Seite“ sein.

Konkret heißt das:

  • Wir brauchen einen Schwung in der Fachkräfteausbildung, ob bei Pflegekräften oder bei Ärztinnen und Ärzten, denn wir dürfen nicht länger mit dem Mangel hantieren, sondern müssen ihn beheben.
  • Wir müssen unsere Strukturen dem tatsächlichen Bedarf anpassen- und nicht umgekehrt – das bedeutet: keine weiteren Schließungen von Stationen oder gar Krankenhäusern.

Gewinne dürfen nicht über die Gesundheit bestimmen oder sie gar beherrschen. Der Staat darf die Gesundheit seiner Einwohnerinnen und Einwohner nicht mehr aus der Hand geben. Für das Gesundheitswesen ist der Staat verantwortlich, denn er hat die Daseinsvorsorge zu sichern und niemand anderes.

Sehr geehrte Damen und Herren,

  • um all das wirklich zu schaffen,
  • um die Krise zu überwinden,
  • um aus dem letzten Jahr zu lernen, um für die Zukunft gewappnet zu sein – braucht es Expertinnen und Experten, braucht es eine „Enquete-Kommission“,

diese Arbeit schaffen nicht die Ausschüsse und keine Sonderlandtagssitzungen.

Dazu ist externer Sachverstand aus allen relevanten Bereichen unerlässlich, damit wir uns nicht wieder der riesigen Gefahr aussetzen, sondern eine wirksame Strategie entwickeln.

Weil wir eben noch nicht über den Berg sind, sind wir weiterhin in der Verantwortung.

Jetzt fängt die schwierige Zeit der Politik erst an.

Denn wir haben die Pflicht, unser Land und seine Menschen zu schützen, erst dann haben wir es geschafft.