Nie wieder! Aus der Geschichte lernen für die Zukunft

Jeannine Rösler

Sehr geehrte Frau Präsidentin,
sehr geehrte Damen und Herren,
wir behandeln heute den Antrag der FDP-Fraktion auf Aussprache zum „Gedenken an die Reichspogromnacht – Lehren für die Vergangenheit“, gemeinsam mit dem Antrag aller demokratischen Fraktionen „Nie wieder! Aus der Geschichte lernen für die Zukunft“.
Dies verdeutlicht noch einmal die Relevanz und Tragweite des Themas.
Als in den Nächten um den 9. November 1938 in Deutschland die Synagogen brannten, markierte dies den endgültigen Bruch mit zivilisatorischen und kulturellen Ansprüchen, den Bruch mit Menschlichkeit. Das November-Pogrom markierte den Auftakt für die vom NS-Regime geplante und vollzogene Vernichtung der europäischen Juden.
Die Reichspogromnacht war ein vorläufiger Höhepunkt der mörderischen und menschenverachtenden Gesinnung der Nationalsozialisten. In einer Konferenz am 11. November 1938 für die ausländische Presse, die klar erkannt hatte, welcher Zivilisationsbruch hier gerade begangen worden war, stellte Goebbels die antisemitischen Aktionen, die Gewalt und die Brandstiftung als einen unkontrollierbaren Volkszorn dar.
Was war geschehen?
In einem nie dagewesenen bestialischen Angriff auf jüdische Bürgerinnen und Bürger wurden Menschen gejagt, ermordet und in den Suizid getrieben. Zahllose Bürgerinnen und Bürger jüdischen Glaubens wurden in Konzentrationslagern inhaftiert, Synagogen brannten.
Die Gestapo leistete eine gründliche und zerstörerische Arbeit. Nicht nur in den größeren Städten, überall tauchten mobile Schlägertrupps auf, auch in kleinsten Dörfern. Deutsche jüdischen Glaubens wurden auf den Straßen gedemütigt, verprügelt und umgebracht, unglaubliche Schäden an ihrem Eigentum angerichtet, eine Atmosphäre der Angst und des Hasses geschürt.
Mit den Pogromen am 9. November 1938 war der Weg in den Holocaust vorgezeichnet.

Meine Damen und Herren,
die Ereignisse der Pogromnacht waren kein spontanes Geschehen. Das NS-Regime hatte durch jahrelange moralische und juristische Grenzverschiebungen eine Stimmung und Hass in der Gesellschaft geschürt, in der die Verbrechen des 9. November möglich wurden.
Vorher schon gehegte Vorurteile konnten nun ungestraft in offene Brutalität umschlagen. Es war ein systematisch gesteuerter Akt unglaublicher Gewalt.
Was danach folgte, ist mit Worten nicht zu fassen, der Zivilisationsbruch der Shoa.

Meine Damen und Herren,
aus diesem dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte müssen alle Menschen Lehren ziehen. Der 9. November 1938 steht warnend und mahnend dafür, wohin geschürte Ängste und Hass, gezielte Falschinformationen und Mangel an Herzensbildung führen können.
Alle Demokratinnen und Demokraten müssen wachsam sein, wenn versucht wird, das Geschehene zu relativieren.
Alle Demokratinnen und Demokraten müssen sich Hass, Hetze, Antisemitismus und Rassismus entgegenstellen.
Jede und jeder, der in den sogenannten sozialen Netzwerken unterwegs ist, kann feststellen, was an verdecktem und offenem Antisemitismus zum Beispiel in Form von Verschwörungstheorien wie den „Protokollen von Zion“ so im Netz kursiert. Die Digitalisierung hat einen gefährlichen, düsteren Nebeneffekt: das Netz als Radikalisierungsmaschine. Moderner Antisemitismus ist ohne das Netz nicht denkbar.

Meine Damen und Herren,
wir stellen uns nicht zum ersten Mal die Frage, wie wir mit der zunehmenden antisemitischen Gewalt umgehen sollen und wie antisemitischem Denken, Sprechen und Handeln begegnet werden kann, was die Lehren aus nationalsozialistischem Terror sein müssen.
Antisemitisches Denken und Handeln hat nie wirklich aufgehört.
Nicht in der Bundesrepublik und auch nicht in der DDR.
Da sind das antisemitische Witzchen am Stammtisch, das hinter vorgehaltener Hand geäußerte vermeintliche Wissen um die Macht der Familie Rothschild, oder die gezogenen Vergleiche zwischen der Politik Israels und dem nationalsozialistischen Wüten.
Und verbale Ausfälle sind bei weitem nicht alles, sie sind die Wurzel für antisemitische Übergriffe. Allein in den Jahren von 2010 bis 2019 stieg die Zahl der registrierten derartigen Attacken von mehr als 1200 auf über 2000.
Über 90 Prozent der Taten waren politisch extrem rechten Akteuren zuzuordnen und hatten nicht, wie es rechtspopulistische Kräfte gerne darstellen, muslimischen Hintergrund.

Meine Damen und Herren,
heute rächt sich, dass die technische und inhaltliche Entwicklung des Internets und damit sozialer Netze ausschließlich Profit-Interessen unterworfen ist.
Hass und Hetze, Menschenverachtung, Rassismus und Antisemitismus verbreiten sich wie Lauffeuer rund um den Globus.
So gibt es ein unsichtbares Band zwischen den antisemitischen Darstellungen einer indonesischen Künstlergruppe auf der documenta in Kassel in diesem Jahr und dem Anschlag von Halle 2019.
Wie können wir dieser unheilvollen Entwicklung entgegentreten?
Ich bin überzeugt, alles entscheidend sind Prävention und Aufklärung.
Mehr politische und Herzensbildung sind dabei das A und O. Und hier meine ich ausdrücklich nicht nur Kinder und Jugendliche, die wir selbstverständlich als allererstes fit machen müssen, damit sie in der Lage sind, quellenkritisch zu sein, Fakten von Propaganda zu unterscheiden.
Das ist bei vielen, unabhängig vom Alter ein Manko und ein großes demokratiebedrohendes Problem, dem wir uns stellen müssen.
Ich bin daher sehr froh, dass wir in dieser Frage zahlreiche Engagierte an unserer Seite haben – die jüdischen Gemeinden des Landes, den Antisemitismusbeauftragten, Ehrenamtlerinnen und Ehrenamtler, Vereine und Verbände, die Landeszentrale für politische Bildung, die Kulturschaffenden und viele andere.
Um all diese Partnerinnen und Partner, Mitstreiterinnen und Mitstreiter noch wirkmächtiger zu vernetzen, wollen wir einen Aktionsplan „Antisemitismusprävention und -bekämpfung“ erstellen.


Meine Damen und Herren,
Antisemitismus ist nicht nur eine Gefahr für Menschen jüdischen Glaubens. Wenn eine gesellschaftliche Gruppe aufgrund ihrer Religion oder ethnischen Zugehörigkeit Angriffen aus Teilen der Gesellschaft ausgesetzt ist, müssen wir uns immer im Klaren sein, dass jede einzelne Person Zielscheibe werden kann – weil sie eine bestimmte politische Einstellung oder Religion hat, bestimmte Gewohnheiten pflegt, anders aussieht oder schlicht eine Demokratin oder ein Demokrat ist. Antisemitische Angriffe sind Angriffe auf uns alle.
Das macht deutlich: Es kommt auf uns alle an – jeden Tag.