17. Juni 1953 – Freiheit und Demokratie durch Gedenken und Aufarbeitung stärken

Jeannine Rösler

Frau Präsidentin,
meine Damen und Herren Abgeordnete,
zwei Tage nach dem 17. Juni 1953 ist Irmgard Wilken 30 Jahre alt geworden. Sie saß mit ihren
zwei kleinen Kindern allein zu Hause – ihr Mann Heinz war unter den Demonstrierenden in
Teterow – sie forderten vor dem Amtsgericht die Freilassung von Inhaftierten – zum Teil mit
Erfolg. Nach den Protesten blieb er tagelang verschwunden. Seine Frau wusste weder, was
passiert war, noch wo er sich aufhielt. Irmgard und Heinz waren meine Großeltern und erzählten
oft aus diesen Tagen der Unsicherheit und Angst. Sie blieben Zeit ihres Lebens keine Freunde
des Systems.

Meine Damen und Herren,
die Geschehnisse dieses denkwürdigen 17. Juni sollten allen Demokratinnen und Demokraten
Anlass sein für Erinnern und Gedenken, Anlass sich darüber klar zu sein, welche Botschaften
und Lehren uns diese Ereignisse mit auf den Weg geben. Bis in die Gegenwart ist die Bewertung
der Ereignisse des 17. Juni 1953 umstritten. Der Blick bei der Einordnung und Beurteilung der
Geschehnisse war und ist zum Teil heute noch von ideologischen Erklärungsmustern verstellt.
Es war nicht so, dass die Mehrheit der in der DDR lebenden Menschen aus Systemgegnern
bestand. Es gab in der Bevölkerung auch verbreitet Akzeptanz und Identifikation, die allerdings
unterschiedlich motiviert und ausgeprägt waren. Und es ist auch richtig, dass es Phasen mit
mehr und Phasen mit weniger Akzeptanz gegeben hat.
In den ersten Jahren nach dem Krieg und in den Gründungsjahren der DDR überwog die
Billigung einer Politik, die sich Frieden, Antifaschismus, Wiederaufbau und auch die nationale
Einheit auf die Fahne geschrieben hatte. Das Datum des 17. Juni 1953 steht indes für
massenhafte Kritik, Auflehnung und Protest gegen die stalinistische Politik der SED. Dabei ist
der 17. Juni der Kulminationspunkt einer Erhebung, die mit spontanen Arbeitsniederlegungen
und Bürgerprotesten an vielen Orten begonnen hatte. Mit den protestierenden Bauarbeitern in
Berlin gegen die Erhöhung der Arbeitsnorm weiteten sich Demonstrationen vor allem in
Industriezentren und Städten mit reger Bautätigkeit zum Massenprotest der Arbeiter aus. Er
fand am 17. Juni vor allem in Berlin, Magdeburg, Halle, Bitterfeld, Leipzig, Jena, Brandenburg
und Görlitz seinen Höhepunkt. Arbeiter streikten in 11 von 15 Bezirksstädten und in 113 von
181 Kreisstädten. Etwa eine Million Menschen nahm an den Streiks und Demonstrationen teil.
Rund 13 000 Menschen wurden verhaftet, 2000 rechtskräftig verurteilt, 1600 Personen zu
teilweise hohen Zuchthausstrafen.
Es gab unzählige Verletzte und auch mindestens 55 Tote. Diese Zahl veröffentlicht die
Bundeszentrale für politische Bildung, sie sind von einer Forschergruppe durch Quellen belegt.

Meine Damen und Herren,
die zentralen Forderungen in diesen Junitagen waren Forderungen nach Zurücknahme der
Erhöhungen von Arbeitsnormen, Zurücknahme von Preiserhöhungen und anderer sozialer
Ungerechtigkeiten, Forderungen nach gesamtdeutschen freien Wahlen und nach Presse- und
Meinungsfreiheit, aber auch nach Freilassung politischer Häftlinge, nach Zurückdrängung der
SED aus den Betrieben und nach Rücktritt der Regierung. Seit längerem aufgestaute
Gegensätze zwischen einer reformunwilligen Regierung und großen Teilen der Bevölkerung
brachen sich Bahn. Seit dem Sommer 1952 verschärfte die SED-Führung ihren autoritären
Kurs, was einher ging mit großen Anstrengungen, eigene Streitkräfte aufzustellen.
Das führte zu einer enormen Zuspitzung wirtschaftlicher, sozialer und politischer
Widersprüche. Die Ereignisse waren vor allem Ausdruck der Unzufriedenheit mit der Politik
der SED und der Blockparteien, sie waren Ausdruck einer verfehlten Wirtschafts- und
Sozialpolitik und der stalinistischen Machtkonstellation in der DDR, Ausdruck der Unfähigkeit
der SED, die Krise zu erfassen, geschweige denn zu meistern. Es war das eingetreten, was es
nach der geläufigen Auslegung des Marxismus-Leninismus eigentlich nicht geben konnte,
nämlich dass die Arbeiterschaft gegen den Staat streikte und rebellierte, der doch ihr eigener
Staat sein sollte. Die Antwort kam prompt und brutal. „Vier Jahre an der Macht, und so weit
sind wir: Die Panzer unser letztes Argument.“ So heißt es in Heiner Müllers Drama
„Wolokolamsker Chaussee“.
Sowjetische Panzer schlagen den Volksaufstand nieder.

Meine Damen und Herren,
es war die Hoch-Zeit des Kalten Krieges, die Etablierung zweier befeindeter deutscher Staaten
war im vollen Gange, der Korea-Krieg loderte, die Konfusion in der Politik des Ostens nach
dem Tode Stalins – all dies hatte zu starren politischen Fronten geführt. Die tiefgreifenden
Spannungen zwischen den Westmächten und der UdSSR bestimmten die Lage in Europa, in
Ost wie in West, und beeinflussten die Stimmung und das Denken im öffentlichen Leben.
Letztlich war die tiefgreifende Krise um den 17. Juni 1953 eine Weichenstellung, die die
Entwicklung in der DDR prägte. Reformorientierte Kräfte innerhalb der Partei und der
Gesellschaft wurden größtenteils zum Schweigen gebracht. Andersdenkende und viele kritische
Stimmen erlitten Repressalien.
Das stalinistische System wurde betoniert. Das Geschehen in diesen Tagen hatte die Schwäche
des politischen Systems offengelegt und zu einer Lähmung des SED- und Regierungs-
Apparates geführt. Für die SED-Führung war der 17. Juni 1953 ein Menetekel.
Bis in die letzten Tage der DDR war die Politik der SED von einer krankhaften Ängstlichkeit
vor innerer Opposition und freier Meinungsäußerung bestimmt. Die damaligen Ereignisse
bewirkten auf Dauer die innere Hochrüstung der DDR sowie eine Politik, die glaubte, mit einem
allgegenwärtigen Sicherheitsapparat alles und jeden kontrollieren und im Zaum halten zu
können. Die Debatte und dieser 70. Jahrestag der Niederschlagung sollten Anlass zur
Besinnung sein. Dies ist auch so, wie ich feststellen kann. Wir gedenken den politischen Opfern,
den Opfern des 17. Juni und auch den Opfern der Folgezeit.

Meine Damen und Herren,
aus der Vergangenheit ist der Schluss zu ziehen, jederzeit einen kritischen Blick darauf zu
haben, wie der Staat seine Macht ausübt, wie er mit den Schwächsten, Andersdenkenden und
Minderheiten in der Gesellschaft umgeht. Die Stärke eines Staates liegt nicht in seiner
repressiven Kraft, sondern in seiner Fähigkeit, allen Menschen demokratische Rechte, soziale
Sicherheit und freie Entfaltungsmöglichkeiten zu bieten.
Meine Damen und Herren,
der 17. Juni ist ein wichtiger Gedenktag für das politische Handeln und für die politische
Bildung. Es bleibt unser Auftrag, Demokratie und Freiheit, Toleranz und Weltoffenheit,
Rechtsstaatlichkeit, Menschenwürde und Menschenrechte zu wahren, zu sichern, sich ständig
dafür einzusetzen – immer und überall.