25 Jahre Landesverfassung – Anspruch und Wirklichkeit

Simone OldenburgPressemeldungen

Erste Bewertung der Antwort der Landesregierung auf die Große Anfrage „25 Jahre Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern“ (Drs. 7/3810) durch die Vorsitzende der Linksfraktion, Simone Oldenburg:

Anlässlich des 25-jährigen Jubiläums der Verfassung hat sich meine Fraktion mit einer Großen Anfrage an die Landesregierung gewandt. Wie bereits vor fünf Jahren wollten wir herausfinden, wie es um die Verfassungswirklichkeit in Mecklenburg-Vorpommern bestellt ist. Die Antworten liefern wertvolle Hinweise, ob und inwiefern die Politik nach- bzw. umsteuern muss.

Eine gründliche Auswertung bedarf natürlich noch etwas Zeit. Erhebliche Defizite zwischen Verfassungsanspruch und -praxis sind jedoch bereits heute erkennbar, insbesondere zu folgenden Punkten:

Direkte Demokratie (S. 2 f.)

Die Landesregierung sieht keinen Handlungsbedarf bei der Stärkung der direkten Demokratie. Dabei gab es bisher lediglich ein erfolgreiches Volksbegehren (Gerichtsstrukturreform), bei dem jedoch der anschließende Volksentscheid am hohen Zustimmungsquorum scheiterte.

In der Verfassung soll das Erfolgsquorum für Volksbegehren von 100 000 auf 70 000 gesenkt werden.

Wahlen (S. 3)

Jeder und jede Wahlberechtigte muss wählen dürfen und können. Bei der letzten Landtagswahl waren lediglich 7,86 Prozent der Wahllokale vollständig und 57,8 Prozent teilweise barrierefrei.

Barrierefreie Wahllokale, Wahlunterlagen und Wahlverfahren flächendeckend sicherstellen.

Gleichwertige Lebensverhältnisse (S. 26 ff.)

Neben der gezielten Förderung der Entwicklung der Ländlichen GestaltungsRäume legt die Landesregierung in der laufenden Wahlperiode nach eigenen Angaben ein besonderes Augenmerk auf die Stärkung des vorpommerschen Landesteils. Die Landesregierung ist mit ihrer Arbeit offenbar recht zufrieden. Die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung hat sich zwischen September 2010 und September 2019 landesweit um 8,9 Prozent erhöht. Allerdings: Während der Beschäftigungszuwachs in diesem Zeitraum in Mecklenburg bei 9,9 Prozent lag, betrug dieser in Vorpommern 6,2 Prozent.

Während der Beschäftigungszuwachs von 2009 bis 2019 in den ostdeutschen Ländern 11,7 Prozent betrug, waren es in M-V 20 Prozent weniger (9,4 Prozent). 

Die Regierung sieht keinen Handlungsbedarf, die Förderung gleichwertiger Lebensverhältnisse in die Verfassung aufzunehmen. Dabei herrschen zwischen Stadt und Land, Küsten- und Binnenland sowie den beiden Landesteilen erkennbare Ungleichheiten. Mit der Förderung gleichwertiger Lebensverhältnisse als Staatsziel kann ein deutliches Zeichen gesetzt werden. Gleichwertigkeit bedeutet nicht Gleichmacherei, sondern Chancengleichheit auf Teilhabe, Entwicklung und Entfaltung.

Alle Strukturreformen gingen mit ihrer Zentralisierung zulasten der ländlichen Räume (Kreisgebiets- und Gerichtsstrukturreform, Schulschließungen, Konzentration in der Berufsschul- und Krankenhauslandschaft). Zugleich wurde der öffentliche Nahverkehr ausgedünnt. Das Angebot beschränkt sich in weiten Teilen des Landes auf den Schülerverkehr.

Aufnahme des Staatsziels Förderung gleichwertiger Lebensverhältnisse und Arbeitsbedingungen in die Landesverfassung. Die Erarbeitung einer notwendigen Industriestrategie und Schaffung eines Regionalbudgets für die ländlichen Gestaltungsräume wären damit viel wahrscheinlicher.

Grenzüberschreitende Zusammenarbeit (S. 38)

Das Land pflegt Regionalpartnerschaften mit Polen, Russland, Finnland und den USA sowie partnerschaftliche Beziehungen zu einer Provinz in den Niederlanden. Einen großen kulturellen und wirtschaftlichen Austausch gibt es mit Schweden und Dänemark. Warum gibt es hier keine Partnerschaften?

Regionalpartnerschaften auch mit Schweden und Dänemark anstreben.

Gleichstellung (S. 43 ff.)

Im Kabinett ist die Gleichstellung annähernd erreicht. In den Geschäftsbereichen der Ministerien sieht es dagegen zum Teil sehr finster aus, insbesondere im Bereich des Innenministers und des Ministers für Landwirtschaft und Umwelt. Auch bei den Hochschulgremien herrscht immer noch eine teilweise erdrückende Männerdominanz. Bei den Einkommen bleiben die Frauen ebenfalls weiter benachteiligt. Dass der Unterschied „nur“ sechs Prozent beträgt, liegt am ohnehin sehr niedrigen Lohnniveau im Land.

Mehr Engagement bei der Gleichstellung. Das Gleichstellungsreformgesetz entfaltet keine Wirkung. Wir brauchen eine Gleichstellungsstrategie und ein gleichstellungspolitisches Rahmenprogramm.

Im Übrigen: Im Landtag liegt der Frauenanteil bei lediglich 25 Prozent. Das ist der schlechteste Wert seit 1994. Frauen sind in politischen Entscheidungspositionen deutlich unterrepräsentiert.

Paritégesetz für M-V erarbeiten, analog zur Regelung in Brandenburg.

Kinder- und Jugendförderung (S. 55 f.)

Die Unterstützung des Landes ist leicht gestiegen. Der Anstieg gleicht jedoch nicht einmal den Kaufkraftverlust der zurückliegenden 20 Jahre aus. In der Stadt Schwerin beträgt der Anteil der Landesförderung an der Kinder- und Jugendhilfe nicht einmal drei Prozent.

Erhöhung des Anteils der Landesförderung um mindestens 50 Prozent.

Ärztliche und zahnärztliche Schuluntersuchungen (S. 63 ff.)

Lediglich die Hälfte der Achtklässler wird ärztlich untersucht, obwohl eine gesetzliche Pflicht besteht. Nennenswerte Verbesserungen gab es in den letzten Jahren nicht. Im Jahr 2018/2019 waren es etwa in Rostock lediglich 20 Prozent und in Schwerin lediglich 16 Prozent, im Landkreis Ludwigslust-Parchim gar nur 0,4 Prozent.

Bei den zahnärztlichen Untersuchungen in Klasse eins ist das Niveau gegenüber 2009 von 85 auf 67 Prozent gesunken. Im Jahr 2018/2019 waren es in Rostock nur 63,5 Prozent, im Landkreis Vorpommern Rügen im Jahr 2017/2018 lediglich 26,9 Prozent. In Klasse acht ist das Niveau gegenüber 2009 sogar von 65,3 Prozent auf 32, 6 Prozent gesunken. Im Jahr 2018/2019 kommt der Landkreis Vorpommern-Rügen auf 14,9 Prozent, Rostock gar nur auf 3,6 Prozent.

Stärkung des Öffentlichen Gesundheitsdienstes. Attraktivität durch bessere Entlohnung und Arbeitsbedingungen erhöhen.

Schulschließungen (S. 68 ff.)

Im allgemein bildenden Bereich wurde ein Drittel, im beruflichen Bereich wurden zwei Drittel der Schulen geschlossen.

Das Schulsterben muss aufhören, Schülermindestzahlen müssen gesenkt werden.

Schülerbeförderung (S. 82 f.)

Die Prüfung des Azubi-Tickets ist immer noch nicht abgeschlossen. Die Landesregierung begründet dies mit der Corona-Krise.

Bis zum Abschluss der Prüfung muss das Land für die Ticket-Kosten aufkommen. So werden auch die unter den Folgen von Corona leidenden Unternehmen entlastet.

Ausbildung (S. 84 f.)

Ein Drittel der Ausbildungsverträge wurde vorzeitig beendet.

Verlängerung der Berufsschulpflicht auf das 21. Lebensjahr. Das Meldewesen beim Übergang von der allgemein bildenden zur beruflichen Schule muss verbessert werden.

Schulabbrecher (S. 85)

Im Jahr 2018/2019 gab es 1225 Schulabbrecher (9,3 Prozent), davon die Hälfte an den Regionalen Schulen.

Einführung der 10-jährigen Schulpflicht.

Einsparungen bei Lehrkräften (S. 89 ff)

Seit 2008 wurden 115 Mio. Euro nicht verausgabt. Das entspricht 1455 Stellen, im Jahr sind das 145 Stellen. Und seit 2002 konnten 449 Stellen nicht besetzt werden. So hat das Land jährlich 37 Mio. Euro gespart, in den letzten 17 Jahren 643 Mio. Euro.

Rücknahme der Stundenerhöhungen

Investitionsstau an Schulen (S. 92 ff.)

Fünf Landkreise haben ihre Zahlen gar nicht an die Regierung gemeldet. Allein in Rostock, Schwerin und Vorpommern-Rügen gibt es einen Investitionsbedarf von 800 Mio. Euro. Mittelfristige Planungen für Sanierungen gibt es nicht. Hochgerechnet dürfte der gesamte Sanierungsstau im Land bei über zwei Mrd. Euro liegen.

Ein Schulbauprogramm in Höhe von einer Mrd. Euro auflegen. Schulbaurichtlinie nebst einer Planung zur Sanierung der Schulen erstellen.

Fachkräftebedarf (S. 104 f.)

Die Zahlen der Regierung sind nach unserer Einschätzung zu niedrig angesetzt, unabhängig davon sind die Zahlen gewaltig.

Eine Ausbildungsinitiative ist dringend notwendig.        

Besonderer Schutz älterer Menschen und von Menschen mit Behinderungen (S. 107 ff.)

Vor dem Hintergrund, dass der Landesregierung die gleichberechtigte und eigenverantwortliche Gestaltung des Lebens älterer Menschen und der Menschen mit Behinderungen angeblich ein „Grundanliegen“ ist, ist die Lebenswirklichkeit ernüchternd. Laut Daten des Mikrozensus für das Jahr 2018 sind 18,6 Prozent der Rentnerinnen und Rentner (fast jeder 5.) armutsgefährdet. Die Zahl ist seit Jahren etwa gleichbleibend hoch.

Solidarische, armutsfeste Mindestrente schaffen. Teilhabestrukturen für Ältere stärken, Seniorenpolitik nicht den Kommunen allein überlassen. Die neue Grundrente wird die Situation nicht entscheidend verbessern.

Die UN-Behindertenrechtskonvention ist nicht ansatzweise umgesetzt, es gibt kaum Barrierefreiheit (z.B. Frauenhäuser nur eins von neun). Das Bundesteilhabegesetz kann wegen der fehlenden Einigung um die Kosten der personellen Mehraufwendungen nicht vernünftig umgesetzt werden. Menschen warten so auf Leistungen und haben monatelange Verfahren.

UN-Behindertenrechtskonvention konsequent umsetzen. Mehr Personal und Ausfinanzierung für die individuelle Bedarfsfeststellung nach dem BTHG.